LUST & LIEBE

SPANNER UND LIKER

Text: Martina Bücher // Illustration: Michael Otto

Kulinarisch ist der Sommer für Jo nur schwer zu ertragen. Menschen, die im Herbst auf der Straße Maroni essen, okay, das geht für ihn gerade noch. Aber die sommerliche Eisschleckerei an jeder Ecke ekelt ihn an. Verschmierte Zungen ragen aus allerlei Mündern, es wird gesabbert und gepatzt, Eiströpfchen hängen in Bärten oder Mundwinkeln.

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Illustration: Michael Otto

Splitternackt unter fremden Menschen zu sein, ist unangenehm. Sie will nicht als Vorlage für sexuelle Männerfanasien herhalten. Gleichzeitig postet sie Fotos von sich züchtig im Bikini am Pool. Abends checkt sie ihre likes und ist enttäuscht, wenn die Zahl nicht dreistellig ist. Auf die virtuellen Spanner steht sie nämlich außerordentlich.

Zelda tickt ganz anders. Social Media ist nicht ihr Ding, sie steht auf direkte Bestätigung. Sie treibt es gerne wild vor Zusehern und genießt anerkennende und lustvollen Blicke. Auch, wenn es nach außen hin völlig unterschiedlich scheinen mag, beide eint ein wichtiges Thema: das Publikum. Egal ob im wirklichen Leben oder auf Social Media – erst durch den Blick der anderen erfahren viele Befriedigung.  

Austauschen, Plaudern und Erzählen sind wesentliche soziale Interaktionen, die für Beziehungen relevant und für ein zufriedenes Leben oft unverzichtbar sind. Anders sieht es aber mit der Abhängigkeit von Anerkennung aus. Soziale Interaktion kann auch zur permanenten Bestätigungssuche missbraucht werden. Was ist ein schöner Sonnenuntergang wert, wenn man ihn nicht fotografiert und mit Leuten am anderen Ende der Welt teilt? Erst die Klicks mit dem Daumen nach oben machen ihn für viele tatsächlich zu etwas Wertvollen.  

In der Gastronomie sind die Köchinnen und Wirte automatisch dem Blick anderer ausgesetzt. Das liegt in der Natur der Sache. Ohne Gäste, die genießen (und allzu oft das Essen fotografieren und über Social Media in Erwartung von positiven Clicks teilen) gäbe es keine Restaurants. Trotzdem müssen sich Gastronomen nicht vom Blick der Gäste abhängig machen. Giuliano Baldessari kocht in seinem italienischen Sterne-Restaurant allabendlich völlig in Latex gehüllt. Billige Marketing-Gags sind diesem selbstbewussten Mann, der mutig seinen Weg gegangen ist, fremd. Er arbeitet so, weil er sich so wohl fühlt. Zunächst noch mit einigen Bedenken, später mit einer lässigen Selbstverständlichkeit. Er betont, dass er dafür keine Zuseher braucht und steht auch nicht für Selfies zu Verfügung. 

Wenn das eigene Selbstbild von Bewertungen durch virtuelle oder reale Spanner abhängig ist, kann das Leben schnell anstrengend werden. Da bleibt dann kaum Zeit, sich auf einen eigenen Weg zu konzentrieren. Das zu tun, was wirklich Freude bereitet, ohne es allen rechtmachen zu wollen, ist ein verlässlicher Weg zum Glück.   

wer&was

MARTINA BUCHER

Martina Bucher ist Psychologin, klinische Sexologin und Kommunikationstrainerin. Sie begleitet Menschen bei Anliegen zu den Themen Sexualität, Bewusstheit und Genuss. Mit ihren Texten verknüpft sie ihren Beruf mit ihrer Leidenschaft für Gastronomie.

martina.bucher@lustundleben.at