Georges Schnyder: Wie so oft im Leben handelt es sich bei den Brandrodungen um Symptome eines grundlegenden Übels und nicht um eine tagespolitische Frage. Unser Präsident gefällt sich in der Rolle, das Ausland mitunter zu provozieren und hat tatsächlich kein Verständnis für Umweltschutz, aber eigentlich ist er eine Marionette.
Auch mit einer anderen Person an der Spitze würde sich nur wenig ändern. Diese Dinge lassen sich nicht per Dekret aus dem Präsidentenpalast lösen. Ich habe zehn Jahre selbst im Amazonas mit lokalen Kooperativen gearbeitet und damals in gewisser Weise Acai „erfunden“. Der Aufbau lokaler Strukturen, um den Menschen vor Ort ein würdiges Leben zu ermöglichen, ist schwierig und dauert Zeit. Brasilien ist nach wie vor ein Land mit extremen sozialen Ungerechtigkeiten, was sich nicht zuletzt bei der Ernährung und in der Lebensmittelproduktion zeigt. In gewisser Weise ist Brasilien heute noch immer eine Kolonie, nur haben sich die Kolonialherren verändert. Heute wird nicht mehr in Lissabon über unser Schicksal entschieden, sondern in Washington, Brüssel und zunehmend auch in Peking.
Wenn jemand ein Zeichen setzen will, damit er sich besser fühlt, dann soll er es tun. Aber zu glauben, dass man damit auf einem anderen Kontinent viel verändert, ist eine Illusion. Prinzipiell dienen Handelsbeschränkungen immer derjenigen Seite, die in der stärkeren Position ist, aber das Thema Handelsbeziehungen ist eine sehr komplexe Frage.
Viel wichtiger wäre es, dass sich junge Leute in Europa für Initiativen wie Slow Food im eigenen Land engagieren und damit beginnen, ihr eigenes Konsumverhalten zu verändern. Das würde dann auch zu einer anderen Landwirtschaft in Europa führen, die ja auch höchst problematisch ist, wenn ich etwa an die Tierfabriken denke. Gut, sauber und fair – so sollten wir uns ernähren und so sollten wir auch Landwirtschaft und Viehzucht betreiben. Es ist immer leicht, mit dem Finger auf Probleme zu zeigen, die sehr weit weg sind.
Schön wär’s. Die meisten meiner dicken Landsleute leben in den großen Städten. Es handelt sich fast immer um weniger gebildete Menschen aus der Unterschicht. Wenn ich arme, übergewichtige Kinder sehe, bricht mir das jedes Mal das Herz. Gleichzeitig herrscht in manchen entlegenen Regionen immer noch Unterernährung. In gewisser Weise ist die Situation heute schlimmer als vor 20 Jahren, weil zur Unterernährung auch noch die Fehlernährung durch die Nahrungsmittelindustrie gekommen ist.
Aber es gibt auch Grund zur Hoffnung. Vor allem junge, gebildete Menschen ernähren sich zunehmend bewusster und gesünder. Der Widerstand regt sich an allen Ecken und Enden. Im Gegensatz zu den großen ideologischen Auseinandersetzungen der 60er- und 70er-Jahre, die uns schlussendlich eine Militärdiktatur gebracht haben, engagieren sich junge Leute heute lokal und versuchen durch viele kleine Schritte, die Situation in ihrer unmittelbaren Umgebung nachhaltig zu verändern.
Die Prinzipien sind die gleichen wie in Europa, wo es meiner Meinung auch nicht um sogenannte „Luxusprobleme“ geht. Die Erhaltung alter Kulturpflanzen und kulinarischer Traditionen sind von zentraler Bedeutung – hier wie dort. Aber natürlich erscheint Slow Food in einem armen Land wie Brasilien deutlich „politischer“ als im reichen Europa. Gleichzeitig unterstützen wir auch hier lokale Konvivien, die traditionelle, regionale Spezialitäten vermarkten. Wir haben über 220 lokale Slow-Food-Anlaufstellen über ganz Brasilien verteilt. Junge Menschen backen selbst Brot, machen handwerklichen Käse, brauen Bier. Seit Kurzem wird auch bei uns „Natural Wine“ produziert.
Das sind alles auch politische Akte, selbst wenn diese Produkte für die ärmsten Mitbürger noch zu teuer sind. Wir müssen dafür sorgen, dass Konsumenten überhaupt die Möglichkeit haben, gut, sauber und fair hergestellte Lebensmittel zu bekommen. Nur gegen die Praktiken der großen Nahrungsmittelkonzerne zu protestieren wäre zu billig.
Freundschaftlich im Ton, hart in der Sache. Mitunter sind das auch sympathische und intelligente Menschen, die unsere Anliegen durchaus verstehen. Manchmal stoße ich sogar auf aufrichtiges Verständnis. Das sind ja nicht alles böse Menschen. Gleichzeitig kann ein Manager nicht gegen die Interessen seines eigenen Konzerns agieren, sonst müsste er ja, so wie ich vor vielen Jahren, seinen Hut nehmen und gehen. Ich sehe die Rolle der großen Lebensmittelkonzerne in unserem Land sehr kritisch, aber das bedeutet nicht, dass auch diese Unternehmen, vieles besser – oder zumindest weniger schlecht – machen können. Wenn sie etwa aufgrund unseres Drucks damit beginnen, den zugesetzten Zucker bei manchen Lebensmitteln zu verringern, hilft das Millionen von Menschen jeden Tag.
Ich habe in São Paulo Lebensmitteltechnik studiert und dann gleich einen tollen Job beim Schweizer Hero-Konzern bekommen. Auch ich war damals kein böser, geldgieriger Mensch, aber jung und ein bisschen naiv. Meine Rolle war es unter anderem, Produktionsprozesse zu optimieren, und wenn man ein Mittel angeboten bekommt, mit dem man unerwünschte Oxidation vermeiden kann, dann verwendet man das auch.
Der Sinneswandel setzte mit der Geburt meiner Tochter ein. Damals habe ich das erste Mal genauer auf das Rücketikett unserer Marmeladen geschaut und realisiert, was da alles drinnen ist. Ich dachte mir, das muss wirklich nicht sein, und habe kurzerhand selbst Marmeladen gekocht. Ich habe dann damit begonnen, mich mehr und mehr mit unserer Industrie auseinanderzusetzen und entschieden, dass ich nicht mehr Teil dieses Systems sein wollte.
Nein. Eigentlich hat sich meine Tätigkeit, zumindest von außen betrachtet, zunächst gar nicht so stark verändert. Gemeinsam mit einem reichen Anwalt haben wir die Palmherz-Plantage im Amazonas, wo ich vorher für Hero gearbeitet hatte, gekauft und dort begonnen, Acai als Zweitprodukt zu lancieren.
Unter den Einheimischen war diese süße Beerenfrucht der Kohlpalme seit jeher extrem populär, doch für Hero war es anfangs nur ein Abfallprodukt. Wir haben dann damit angefangen, Acai als neues „Superfood“ unter den Surfern zu vermarkten, was uns auch grandios gelungen ist. Heute kennt man Acai auf der ganzen Welt. Im Gegensatz zur Palmherz-Produktion, wo nur ein sehr geringer Teil der Wertschöpfung vor Ort passiert, haben wir viel in lokale Infrastruktur investiert, sodass auch die umliegenden Gemeinden vom unserem Erfolg nachhaltig profitiert haben. Wir wurden für dieses Projekt von der UNO als eines von weltweit sechs Pilotprojekten zur Rettung des Regenwalds ausgezeichnet und haben es 2001 auf das Cover des renommierten„Economist“-Magazins geschafft. Wenn man etwas für den Regenwald tun will, muss man sich dort auch
Georges Schnyder (li.) im Interview mit dem Autor
Slow Food Brasil veranstaltet lokale Produzentenmärkte
Die Journalistin Mariella Lazaretti mit ihrem Mann Georges Schnyder
In den letzten Jahren hat sich in Amerika und Europa der Begriff „Superfood“ für besonders gesunde Lebensmittel durchgesetzt. Dazu werden auch die Acai-Beeren gezählt. Sie sind sehr nährstoffreich und weisen einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Anti-Oxidantien und reichlich Vitamine auf. Dafür, dass man Acai alle möglichen Wunderwirkungen (von Anti-Aging bis zum Schlankmacher) zuschreibt, die nicht beweisbar sind, kann die blaue Beere ja nichts.
Dass sie – wie anderes Obst – gesund ist und gut schmeckt, ist jedoch unbestritten. Neben einer fruchtig-säuerlichen Note enthalten Acai-Beeren auch Bitterstoffe. In Brasilien sind Säfte und Eiscremes sehr beliebt, in Europa ist Acai zumeist in getrockneter Form, als Pulpe oder als Pulver erhältlich.
für biologische Vielfalt – 2003 gegründet, um die Slow-Food-Projekte zur Bewahrung der biologischen Vielfalt und Traditionen zu unterstützen.
wird 2004 gegründet, um die Entwicklung eines weltweiten Netzwerks zu unterstützen, welches Lebensmittelgemeinschaften, Köche, Wissenschaftler und Jugendliche in ihrer Arbeit für ein nachhaltiges Lebensmittelsystem verbindet.
wird 2004 eröffnet, um die Zukunft der Lebensmittelbranche auszubilden.