GEBT DEN GÄSTEN SAURES!

Essig verdient aufgrund seiner universellen Einsatzmöglichkeiten zu Recht unsere volle Aufmerksamkeit. Wie Manufakturen mit neuen Produkten die Kreativität von Köch:innen immer wieder befeuern und warum wir Essig öfter mal ins Glas anstatt ins Essen gießen sollten.

Text: Sonja Planeta

Viel mehr als sauer: Hochwertige Essige haben komplexe Aromen.

Die hauchdünne Eisschicht in der Mitte der Schüssel schimmert im Licht der Deckenstrahler und gibt den Blick auf eine bernsteinfarbene Flüssigkeit frei. Obenauf liegen halbkreisförmig arrangiert zarte Kräuter: Kerbel, lila Brunnenkresse, Queller, Huacatay, Sauerklee, Mizuna. „Seasonal herb salad with ice crystals“ nennt Albert Adrià das filigrane Gericht, das aktuell Teil des Menüs in seinem Einsternerestaurant Enigma in Barcelona ist. Noch bevor der Teller an den Tisch kommt, wird die Aufmerksamkeit des Gastes auf eine wesentliche Zutat gelenkt: Vinagre Balsamico al Pedro Ximénez Gran Reserva 50 años der andalusischen Bodegas Toro Albalá. Der Service geht mit einer Flasche von Tisch zu Tisch, erzählt von ihrer Herkunft und von Albalás Solera-Wein aus dem Jahr 1960, der dem intensiv-dunkelbraunen Essig als Basis dient. Kurz darauf durchbricht der Gast die Eisschicht mit einem Löffel und vermischt die Eiskristalle und Kräuter mit dem darunterliegenden Balsamico-Dressing. Quasi ein DIY-Salat.

Alois Gölles feierte im Steirereck sein 40-Jahr-Jubiläum mit einer großen Gästeschar.

In Szene setzen

Die Essigherstellung ist eines der ältesten Verfahren zur Haltbarmachung von Lebensmitteln. Je nach Quelle sollen bereits Hochkulturen tausende Jahre vor Christus Essig (wenn auch oftmals unbeabsichtigt aus sauer gewordenem Fruchtsaft, Wein und Bier) produziert und zum Würzen oder als Arzneimittel verwendet haben. Bis heute ist Essig aus der Küche nicht wegzudenken; nur selten wird er vorm Gast allerdings derart inszeniert, wie in Albert Adriàs Enigma – oder beim 40jährigen Jubiläum von Gölles.

Die Geschichte der steirischen Essigmanufaktur begann 1984. Alois Gölles entwickelte damals den weltweit ersten Apfel-Balsamessig, indem er Apfelmost einkochte, ihn vergären und anschließend acht Jahre in Eichenfässern reifen ließ. Anstatt durch eine intensive Säure sollte sich sein Essig durch ein fruchttypisches Aroma und eine milde Würze auszeichnen. Das Vorhaben gelang. Heute schwören Spitzengastronomen wie Heinz Reitbauer, Hubert Wallner, Andreas Döllerer und Hannes Müller auf Gölles Essige, deren Zahl in den Jahren auf 19 Sorten angewachsen ist, von Klassikern bis hin zu außergewöhnlichen Geschmacksrichtungen wie Bier- oder Tomaten-Essig. Heinz Reitbauer war es auch, der anlässlich von „40 Jahre Apfel-Balsamessig“ Anfang April dieses Jahres im Steirereck in Wien die Essige im Rahmen eines Menüs für geladene Gäste in Szene setzte. Marchfelder Solo Spargel mit Feigenblatt und Rhabarber wurde mit Gölles Spargel-Essig verfeinert, Amurkarpfen mit Melanzani und junger Kokosnuss mit Apfel-Balsamessig und die Ziegenkitz-Schulter mit jungen Erbsen und Pimpinelle mit Weißer Balsamessig. Die abschließende Kugel Vanilleeis wurde mit XA Apfel-Balsamessig beträufelt; einer Rarität, die mindestens zwanzig Jahre in immer kleiner werdenden Fässern aus verschiedenen Hölzern wie Eiche, Kastanie, Akazie, Kirsche und Esche gelagert wird. Dosiert wird der kostbare Essig mittels Glaspipette und Porzellanlöffel.

« Essig intensiviert den Eigengeschmack von Grundprodukten. »

Eigengeschmack intensivieren

Auch Haubenkoch Josef Floh aus Langenlebarn verwendet Fruchtessige passend zum Grundprodukt, also Spargel-Essig zu Spargel („anstatt Zitrone“), Marillen-Essig zu Marille und Melonen-Essig zu Melone, „weil es den Eigengeschmack intensiviert“, wie er sagt. In den allermeisten Fällen verwendet er die Produkte von Mario Pecoraro und Erwin Gegenbauer. Beide Betriebe liegen innerhalb Flohs selbstauferlegtem „Radius 66“, also einem Umkreis von 66 Kilometern ausgehend von seiner Gastwirtschaft, aus dem der überwiegende Teil seiner Zutaten stammt. Pecoraro produziert am Ölberg in Klosterneuburg Aceto Balsamico, der nach uraltem, modenesischem Verfahren hergestellt wird, das Gründer und Kammersänger Herwig Pecoraro in der 1980er Jahren bei seinem Gesangsstudium in der Essig-Hochburg Modena kennengelernt hat. Seit 2020 wird der Betrieb von seinem Sohn Mario geführt. Der Aceto Balsamico wird ausschließlich aus dem Saft regionaler Bio-Grüner Veltliner Trauben hergestellt. Frisch von der Pressung kommt er in einen Kochkessel, wo er über offenem Feuer über Stunden auf ein Drittel seines Volumens reduziert wird. Danach folgt der traditionelle, jahrelange Lagerungs- und Umfüllprozess: Aus dem kleinsten Fass wird nach mindestens neunjähriger Lagerung eine bestimmte Menge des fertig gereiften Aceto Balsamico entnommen. Diese Menge wird dann vom nächstgrößeren Fass ins Kleinste nachgefüllt. Der dort fehlende Anteil wird wiederum vom nächstgrößeren Fass entnommen, bis schließlich ins größte Fass frisch abgekochter „mosto cotto“ nachgefüllt werden kann. Mit dem neunjährigen Balsamico-Essig würzt Josef Floh unter anderem roh mariniertes Rind, „wir verwenden ihn aber auch gerne für Drinks, in die wir Frische und Tiefe hineinbekommen möchten, wie in unseren alkoholfreien Spinat-Drink.“ Der Aceto Balsamico 15 Jahre ist eine Essenz und wird auch bei Floh – wir kennen es bereits von Heinz Reitbauer – zu Eis serviert.

Im Tian kommt Essig nicht nur in der Küche von Paul Ivic zum Einsatz, auch Michael Peceny schwört bei seiner alkoholfreien Getränkebegleitung darauf.

Basis für so ziemlich alles

Auf Lieferanten aus unmittelbarer Umgebung setzt man auch im TIAN in Wien. Österreichs einziges vegetarisches Sternerestaurant schwört auf die Produkte von Essigpapst Erwin Gegenbauer, der mit seiner Manufaktur seit drei Jahrzehnten in Wien-Favoriten angesiedelt ist. Gegenbauers Sortiment umfasst derzeit über 60 verschiedene Sorten. Alle Produkte sind rein natürlich, werden weder pasteurisiert noch filtriert und lagern je nach Sorte mehrere Jahre in Eichenfässern auf dem Dach der hauseigenen Brauerei oder in Glasballons in den Katakomben. Mit seinen süßen Hausessigen hat Gegenbauer ein ganz eigenes Genre geschaffen, das mit „Süße Weichsel“ und „Süße Himbeere“ soeben zwei Neuzugänge bekommen hat. Ebenfalls neu ist ein Yuzu-Essig mit Noten von Zitrone, Mandarine und Grapefruit, der zu bitteren Salaten oder gekochtem Rind passt, durch seine milde Säure aber auch für Cocktails und Aperitifs geeignet ist. Im TIAN kommt Gegenbauers Hausessig „Süße Birne“ im Gericht „Sellerie/Birne/Wacholder“ zum Einsatz. Dieses besteht aus einer Art Knollensellerietörtchen, das mit Birne, Staudensellerie und Selleriepüree gefüllt und mit rotem Wacholder abgeschmeckt wird. Die enthaltene Birne wird mit dem Birnenessig verfeinert und das „Törtchen“ wird final mit einer Bechamel mit Buttermilch überzogen, in der der Essig ebenfalls enthalten ist. Neben einem Sellerieschalenjus und einem Sellerieröllchen wird auch ein Sellerieschaum serviert, der aus Staudensellerie und Birnenessig besteht. Darüber hinaus verwendet die TIAN-Küchencrew rund um Paul Ivić Gegenbauers Produkte auch zum Einlegen sowie als Basis für Getränke. Für seinen Apfel-Pflaumen-Shrub legt Michael Peceny, Mastermind hinter der alkoholfreien TIAN Getränkebegleitung, Äpfel in Gegenbauer Pflaumenessig ein. Peceny besitzt mittlerweile aber auch eine stolze Sammlung eigener Essigmütter, mit denen er Essige ansetzt und weiterverarbeitet. Aus Spargelresten der Saison 2023 ist ein Spargel-Berberitzenessig entstanden, den er mit fermentierten Petersilwurzeln und Kumquat-Kombucha kombiniert. Für den Erdbeer-Eberrautenshrub werden Erdbeeren und Eberraute für zwei Wochen in Essig eingelegt, mit einem Erdbeersirup abgeschmeckt und mit Sodawasser verdünnt getrunken. Karotten-Shrub kommt mit Schwarztee-Pfeffer-Essig ins Glas.

Manuel Rieder produziert am Wanenhof über 40 Sorten Oxymel.

Wohl bekomm’s!

Im Biohotel Daberer im Kärntner Gailtal hat man hingegen Oxymel für sich entdeckt. Das Getränk, auch bekannt als Sauerhonig, besteht aus zwei Teilen Honig und einem Teil Apfelessig („Oxymel simplex“) und wird seit über 2.500 Jahren als Nahrungs- und Arzneimittel geschätzt. Für „Oxymel compositum“ wird Honig und Essig um einen Kräuterauszug erweitert. Im Daberer besteht dieser aus Kamille, Kümmel, Wacholder, Lindenblüte, Brennnessel und Schafgarbe. Das Oxymel wird dem Gast verdünnt beim Check-in gereicht und als Shot beim Frühstück angeboten. Im Frühjahr gibt es als Special Holunderblütenoxymel. „Wichtig ist, unpasteurisierten Apfelessig zu verwenden, der ist allerdings schwer zu bekommen. Wir machen ihn seit jeher selbst“, erklärt Hotelière Marianne Daberer. Souschefin Stefanie Sonnleitner verwendet das Oxymel für Dressings und Smoothies, zum Marinieren etwa von Spargel oder Roter Rübe, für ihre Entensauce und träufelt es pur über einen Apfelzuckerschotensalat.

„Was man nicht tun sollte, ist Oxymel zu kochen. Dadurch werden die Inhaltsstoffe von Honig und Essig abgetötet“, weiß Manuel Rieder vom Wanenhof im Waldviertel. Gemeinsam mit seiner Partnerin Ina Baltes produziert er in seiner Kräutermanufaktur 40 verschiedene Sorten Oxymel. Neben Kräuterauszügen fügt er auch welche aus Früchten und Gemüse hinzu. Die Zutaten stammen aus der eigenen Landwirtschaft mit altem Obstbaumbestand, Beerensträuchern und Kräuterspiralen. „Was wir nicht am Hof haben, Schafgarbe oder Mädesüß, holen wir aus der Umgebung. Wir liegen in einem Natura 2000 Schutzgebiet, ich habe keine Bedenken.“ Was die Anwendung in der Küche betrifft, seien die Möglichkeiten unbegrenzt, meint Rieder: Man könne Oxymel in den Tee geben, Basilikum-Oxymel unter die Pasta rühren, Waldheidelbeer- oder Felsenbirnen-Oxymel zu Topfenknödel kombinieren und Lavendel- oder Schafgarbe-Oxymel zu Caprese. „Es ist ein Ausprobieren. Geschmäcker sind verschieden.“ Am Gast hat Oxymel allerdings noch Erklärungsbedarf. Nur fünf Prozent der Gäste kennen es, meint Marianne Daberer. Der Schlüssel liegt also in der Kommunikation: Die Vorzüge müssen dem Gast buchstäblich vor Augen geführt werden, von Oxymel, Shrub und Essig generell. Im Enigma hat man den Dreh bereits raus.

Josef Floh verstärkt den Eigengeschmack seiner Gerichte gerne mit fruchtigen Essigen von Gölles und Gegenbauer.
Balsamessig aus Klosterneuburg: Herwig und Mario Pecoraro.

Aus Krems: Andreas Gugerells Essige reifen bereits seit 15 Jahren.

Rund 30 Mitarbeiter sind im modernen Büro in Puch bei Salzburg beschäftigt.

Das Biohotel Daberer begrüßt seine Gäste mit einem Oxymel-Drink.

Adressen:

Bodegas Toro Albalá

Avda Antonio Sanchez 1, 14920 Aguilar de la Frontera, Córdoba, Spanien

www.toroalbala.com

Manufaktur Gölles

Stang 52, 8333 Riegersburg

www.goelles.at

Acetaia Pecoraro

Eisenhütte 32, 3400 Klosterneuburg

www.balsamico.at

Manufaktur Gugerell

Reisperbachthalstraße 82/4, 3500 Krems an der Donau

www.essig-gug.at

Gegenbauer

Waldgasse 3, 1100 Wien 

www.gegenbauer.at

Wanenhof

Unterlembach 11, 3962 Heinrichs bei Weitra    

www.wanenhof.at

Enigma

Carrer Sepúlveda 38-40, 08015 Barcelona

www.enigmaconcept.es

Restaurant Steirereck

Am Heumarkt 2A, 1030 Wien

www.steirereck.at

Gastwirtschaft Floh

Tullner Str. 1, 3425 Langenlebarn

www.derfloh.at

Restaurant TIAN

Himmelpfortgasse 23, 1010 Wien

www.tian-restaurant.com 

der daberer . das biohotel

St. Daniel 32, 9635 Dellach

www.biohotel-daberer.at