ZWEI KULTUREN ZUGLEICH

Sein Vater ist Wiener, die Mutter Chinesin. Aufgewachsen ist Tim Urban in Wien, studiert hat er dann auch in Shanghai.

Text: Wolfgang Schedelberger; Fotos: Rainer Fehringer

China ist riesengroß und hat eineinhalb Milliarden Einwohner. Macht es da überhaupt Sinn, von einer chinesischen Küche zu sprechen?

Das macht ungefähr so viel Sinn, wie von einer europäischen Küche zu sprechen. Aber mit europäischen Augen betrachtet, gibt es schon ein paar gemeinsame Elemente, wie Reis als wichtigste Beilage, Sojasauce zum Würzen und den Wok zum kurzen, scharfen Anbraten. Es werden acht Regionalküchen unterschieden, die zum Teil sehr unterschiedlich schmecken. Die einzige gemeinsame Klammer ist eigentlich der Verzicht auf Milchprodukte. Gleichzeitig stellt China eine tausende Jahre alte Zivilisation dar, die natürlich auch das Essen umfasst. 

«Das Gericht Chop-Suey gibt es in China nicht.»

Sind auch beliebte Gerichte wie Chop-Suey, Acht Schätze oder Schweinefleisch süß/sauer Teil dieser tausendjährigen Geschichte?

Eher nicht. Das Gericht Chop-Suey gibt es in China nicht. Das wurde, soweit wir wissen, in den 1950er Jahren in den USA erfunden und bedeutet so viel wie klein geschnittenes, gebratenes Allerlei. Derartiges gibt es in der einen oder anderen Form natürlich auch in jedem chinesischen Dorf, aber es gibt dafür kein Originalrezept. „Acht Schätze“ ist in China ein geflügeltes Wort und wird vor allem im kulturellen Bereich verwendet, weil die Acht eine Glückszahl ist. Wir lieben poetische Bezeichnungen für Gerichte, aber es gibt kein Originalrezept für acht Schätze. Das kann jeder Koch halten, wie er will. Fleisch gemeinsam mit Ananas zu braten, ist nur ganz im Südosten Chinas üblich, wo auch Ananas gedeihen. Das ist also nur für einen winzigen Landesteil typisch und auch dort werden meistens andere Gerichte gegessen. Aber weil es so exotisch schmeckt, sind süß/saure Fleischgerichte in den USA und in Europa sehr beliebt geworden und werden hier als typisch Chinesisch gesehen.

Aber zumindest das Essen mit Stäbchen ist typisch Chinesisch oder ist auch das eine Fehlinterpretation westlicher „Langnasen“?

Da hast du ausnahmsweise Recht. Die Essenstäbchen wurden tatsächlich vor rund 3.000 in China erfunden und wurden im 7. Jahrhundert durch Priester und Missionare auch nach Vietnam, Korea und Japan gebracht. Der Mytholgie nach, sollten Messer, die ja auch als Waffe dienen können, nicht beim gemeinsamen Essen anwesend sein. Mehr als in anderen traditionellen Küchen geht es in China um das Mundgefühl „Kougan“. Auch die feuchte Knusprigkeit „cui“ ist bei manchen Gerichten sehr wichtig. Damit ein westlicher Gaumen das verstehen kann, sollte man oft in gute chinesische Restaurants gehen.   

Ein Wurf für die Ewigkeit: Den Forellenstrudel gibt es seit Jahrzehnten

Eine letzte kritische Frage zum Image der China-Küche sei noch erlaubt. Was hat es mit dem berüchtigten China-Restaurant-Syndrom auf sich, das besagt, dass manche Europäer chinesisches Essen einfach nicht vertragen?

In den letzten Jahren nehmen Unverträglichkeiten zwar zu, aber dass bestimmte Personen allergisch auf die chinesische Küche reagieren würden, ist Unfug. Wenn man in ein billiges Restaurant geht, wo die Hygiene mangelhaft ist, die Lebensmittel nicht frisch sind, sehr viel Frittiertes auf den Teller kommt und zahlreiche Gerichte mit einer Extraportion Glutamat ‚abgeschmeckt‘ werden, kann es schon passieren, dass man sich nachher unwohl fühlt. Solche Lokale sollte man prinzipiell meiden, ganz egal welche Art von Küche dort angeboten werden.

Du betreibst in Wien zwei China-Restaurants. Eines heißt Sichuan, das andere Shanghai. Gibt es dort eine authentische Sichuan-, beziehungsweise eine authentische Shanghai-Küche?

Kurz geantwortet: Im Sichuan ja, im Shanghai nein. Im Sichuan stehen von Beginn an Meisterköche am Herd, die ihr Handwerk in Sichuan gelernt haben. Sie können also gar nicht anders kochen. Allerdings verwenden wir viele Produkte aus Österreich. Pak Choi wird mittlerweile auch hierzulande angebaut, frischen Wasserspinat bekommen wir aus Italien. Nur bei den Gewürzen und manchen exotischen Früchten brauchen wir original chinesische Ware. Chinesen schätzen es, im Restaurant aus einem breiten Angebot wählen zu können. Wenn Chinesen gemeinsam essen gehen, wird Verschiedenes bestellt, alles gleichzeitig serviert und in die Mitte des Tisches gestellt. Das ist in Europa zumindest bis vor kurzem total unüblich gewesen. Hier will jeder Gast sein Gericht exklusiv für sich haben. 

Vom Ambiente her ist das Shanghai ein chinesisches Restaurant wie aus dem Bilderbuch – mit viel Rot und Gold an den Wänden. Wie chinesisch schmeckt es im Shanghai?

Das kommt auf die Erwartungshaltung an. Wir haben einen chinesischen Küchenchef der zahlreiche Gewürze aus seiner Heimat einsetzt – unsere Gerichte schmecken für Kenner also durchaus chinesisch. Carpaccio ist zwar kein typisch chinesisches Gericht, so wie wir es würzen, schmeckt es jedoch alles andere als Italienisch. Als Fine-Dining-Restaurant können wir – anders als im Sichuan – ein Preisniveau fahren, dass es uns erlaubt, mit absoluten Premium-Produkten zu arbeiten. Damit der Eigengeschmack erhalten bleibt, würzen wir hier eher zurückhaltend. Zu intensive Würzungen und zu viel Schärfe würde auch der Weinbegleitung schaden. Hätte ich ein neues Restaurant aufgesperrt, wäre die Einrichtung wohl wesentlich moderner ausgefallen. Aber das Ambiente vom Shanghai war so außergewöhnlich, dass wir es unbedingt erhalten wollten.

Seit ein paar Jahren gibt es in Wien eine Handvoll von China-Restaurants, die ebenfalls auf Haubenniveau kochen und tolle Weine anbieten. Wie siehst du diese Konkurrenz?

Absolut positiv. Ich würde diese Restaurants auch nicht als Konkurrenten, sondern eher als Mitstreiter betrachten, weil wir gemeinsam an einem Strang ziehen, um den Ruf der chinesischen Küche insgesamt zu verbessern. Zu viele China-Restaurants haben in der Vergangenheit mittelmäßige Qualitäten angeboten und versucht, dieses Manko mit einer Extraportion an kitschiger Einrichtung zu kompensieren. Die nächste Generation an „Austro-Chinesen“ tickt ein wenig anders und legt mehr Wert auf frisch gekochtes, qualitatives Essen. Gleichzeitig sind auch die österreichischen Gäste kritischer geworden und schätzen ehrliches, frisch gekochtes Essen auch in chinesischen Restaurants.   

CHINA IN WIEN

AUS ALT MACH NEU
Der Goldene Drache schaut so aus, wie man sich bei uns Jahrzehnte lang ein typisches China-Restaurant vorgestellt hat. Kein Wunder, schließlich ist es auch der erste „Chinese“ Österreichs. Mit seiner rot-goldenen Inneneinrichtung und zahlreichen exotischen Deko-Elementen hat es den Wienern im Jahr 1967 die ersten kulinarischen Einblicke ins Reich der Mitte eröffnet. Die Familie Wu hat das Lokal seit den 1990er Jahren in zweiter Generation weitergeführt, Anfang 2024 war dann aber Schluss. Da haben Xialoi Qui und ihr Mann Ben Edwards die Gelegenheit ergriffen, um es – mit einer zeitgemäßen kulinarischen Handschrift – fortzuführen. Ben ist Austro-Brite, Xiaoli ein Austro-Chinesin. Gemeinsam betreiben sie die Fladerei-Filiale in der Berggasse – Ben in der Küche, -Xiaoli als Service-Leiterin. Als in der Wiener China-Community das Gerücht die Runde machte, dass der Goldene Drache zu haben wäre, haben die Beiden zugeschlagen. Das historische Ambiente wollen sie erhalten, aber doch Schritt für Schritt entstauben. Wichtiger war die Neuausrichtung der Küche hin zu einer authentischen Sichuan-Küche, wobei die Gäste gewisse Grenzen vorgeben. „Manche Gerichte haben wir etwas entschärft, damit sie für den europäischen verträglicher sind“, erklärt Ben, der sich die Geheimnisse der China-Küche gemeinsam mit Xiaoli erarbeitet hat.
OHNE KULINARISCHE ZWANGSJACKE
Kochen war schon seit je her seine große Leidenschaft, doch das war vor vierzig Jahren in China kein seriöser Beruf für einen ambitionierten jungen Menschen. Also hat Simon zunächst Medizin studiert und eine Karriere als Chirurg gestartet. „Da war zu viel Krankheit und Tod um mich. Ich habe also eine zusätzliche Ausbildung als Koch gemacht, weil das nach der Traditionellen Chinesischen Medizin auch dazu gehört“, erinnert sich Simon an seine Jugend in China. Wirklich glücklich wurde er in China trotzdem nicht. Seine Schwester war bereits in Österreich, er kam zu Besuch und blieb. In Wien machte er sich bald als Koch selbständig und eröffnete mit dem On ein China-Restaurant, das ganz ohne kitschigen Drachen und Lampions auskam. Mit der China-Bar in der Burggasse, dem On-Market beim Naschmarkt und der China-Bar an der Wien folgten drei weitere Restaurants, von denen er sich Schritt für Schritt wieder getrennt hat – nur das Stammlokal führt er heute noch: Ein bisschen wolle er schon noch arbeiten. Auf übermäßig viel Authentizität legt bei einzelnen Gerichten keinen gesteigerten Wert: „Ich liebe steirische Kürbiskernöl und verwende es regelmäßig. Es passt zu manchen chinesischen Gerichten besser als die allgegenwärtige Sojasauce. Man sollte mit offenen Augen durch die Welt gehen und nicht stur an alten Traditionen festhalten“, ist Simon überzeugt.
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«Es gibt viele Vorurteile. Wir helfen dabei, sie abzubauen.»

wer & wo

Restaurant Shanghai

Jasomirgottstraße 6, 1010 Wien